Fehlbildungen

Ätiologie:

Erblich bedingte Mikrognathie des Unterkiefers oder Vogelgesicht durch Störung des Wachstums nach Osteomyelitis, Gelenkfortsatzfrakturen oder Ankylosen.

Symptomatik:

Hypoplasie oder Distalverlagerung des Unterkiefers mit Rücklage des Kinns, negativer Lippenstufe und Distalbiss, (Angle-Klasse II). Nicht selten Kombination mit einer maxillären Prognathie (siehe Maxilläre Prognathie) und Engstand der Zähne im Frontzahnbereich des Oberkiefers.

Die unteren Schneidezähne sind oft verlängert und beißen beim Schlussbiss auf die Gaumenschleimhaut.

Das Vogelgesicht ist durch eine hochgradige Hypoplasie des Unterkiefers charakterisiert, die einseitig oder doppelseitig auftreten kann. Die Mundöffnung ist nach Gelenkfrakturen und Ankylosen in der Regel behindert.

Therapie bei Mikrognathie des Unterkiefers

  • Im Wachstumsalter kieferorthopädische Behandlung.
  • Nach erfolgreicher kieferorthopädischer Therapie ist in der Regel noch eine Aufbauplastik des Kinns erforderlich (siehe Maxilläre Retrognathie)

Bei Erwachsenen kommen folgende Operationen in Betracht:

Operationen in den aufsteigenden Ästen:

Die sagittale Spaltung der aufsteigenden Äste und der Kieferwinkelregion (Dal Pont): Die Osteotomie entspricht der sagittalen Spaltung, wie sie bei der Operation der mandibulären Prognathie vorgenommen wird (siehe Mandibuläre Prognathie).

Nach Mobilisation wird der Unterkiefer nach vorn und mit Hilfe des Bissschlüssels in Okklusion gebracht. Die Fragmente werden durch Zugschraubenosteosynthese funktionsstabil fixiert.

Bei der bogenförmigen Osteotomie mit Osteoplastik (Immenkamp, Schuchardt) wird auf jeder Seite ein Knochenschnitt zwischen Foramen mandibulare und Muskelfortsatzbasis angelegt, der bogenförmig bis zum Kieferwinkel zieht.

Nach vollständiger Durchtrennung der aufsteigenden Äste wird der Unterkiefer vorgezogen und in die ermittelte Okklusion gebracht. In die danach entstandenen Knochenlücken werden Beckenkammtransplantate eingelagert. Die Unterkieferteile werden zusammen mit den Transplantaten durch Plattenosteosynthese stabilisiert.

Zustand nach kieferorthopädischer Behandlung einer mandibulären Retrognathie. Nach Normalisierung der Okklusion blieb ein flaches Kinn zurück.
Zustand nach kieferorthopädischer Behandlung einer mandibulären Retrognathie. Nach Normalisierung der Okklusion blieb ein flaches Kinn zurück.
Situation nach Kinnaufbau mit einem Knochenersatzmaterial
Situation nach Kinnaufbau mit einem Knochenersatzmaterial
Sagittale Spaltung des aufsteigenden Unterkieferastes nach Obwegeser-Dal Pont zur Behandlung einer mandibulären Retrognathie
Sagittale Spaltung des aufsteigenden Unterkieferastes nach Obwegeser-Dal Pont zur Behandlung einer mandibulären Retrognathie
Sagittale Spaltung des aufsteigenden Unterkieferastes nach Obwegeser-Dal Pont zur Behandlung einer mandibulären Retrognathie
Sagittale Spaltung des aufsteigenden Unterkieferastes nach Obwegeser-Dal Pont zur Behandlung einer mandibulären Retrognathie
Mandibuläre Retrognathie
Mandibuläre Retrognathie
Situation nach sagittaler Spaltung der aufsteigenden Äste (Obwegeser-Dal Pont-Osteotomie) und Vorverlagerung des Unterkiefers
Situation nach sagittaler Spaltung der aufsteigenden Äste (Obwegeser-Dal Pont-Osteotomie) und Vorverlagerung des Unterkiefers

Operationen im Kieferkörper

Bei den Osteotomien im horizontalen Bereich des Unterkiefers entsteht nach der Vorverlagerung in jedem Falle ein Knochendefekt. Dieser sollte durch ein Knochentransplantat oder durch Knochenersatzmaterial ausgefüllt werden.

Die Erhaltung des N. alveolaris inferior ist möglich, wenn der Unterkiefer nicht mehr als 1,5 cm vorverlagert wird, weil das Gefäß-Nerven-Bündel um diese Länge gedehnt werden kann, ohne Schaden zu nehmen.

Von den für die Behandlung der mandibulären Prognathie angegebenen Operationsmethoden (Mandibuläre Prognathie) eignen sich in Kombination mit einer Knochentransplantation:

  • Die geradlinige Osteotomie (Dingman).
  • Die anteriore Osteotomie (Krüger).
  • Die lamelläre vertikale Osteotomie (Schmelzle).

Weitere Operationsmöglichkeiten sind:

Die treppenförmige Osteotomie (v. Eiselsberg, Dingman, Pichler, Kazanjian) wird im Bereich einer Zahnlücke im Molarenbereich vorgenommen. Nach Freipräparation des Gefäß-Nerven-Bündels wird ein vertikaler Knochenschnitt vom Alveolarfortsatz bis zur Region unterhalb des Nervenkanals angelegt, der dann waagerecht bis in den Eckzahnbereich und von dort vertikal zum Unterkieferrand geführt wird. Nach der Vorverlagerung des Unterkieferkörpers entstehen Lücken am seitlichen Alveolarfortsatz und am anterioren Unterkieferrand, die mit Knochen ausgefüllt werden müssen.

Die L-förmige Osteotomie (Converse) wird nach Extraktion des ersten Prämolaren vorgenommen. Der Knochenschnitt verläuft vertikal vor dem Foramen mentale und biegt unterhalb desselben rechtwinklig nach dorsal um und wird hier leicht absteigend bis zum Unterkieferrand der Molarenregion geführt. Die nach Vorverlagerung des anterioren Unterkiefersegments im Alveolarfortsatz entstandene Lücke muss mit Knochen ausgefüllt werden.

Linksseitige mandibuläre Laterognathie mit offenem Biss
Linksseitige mandibuläre Laterognathie mit offenem Biss
Situation nach sagittaler Spaltung im linken aufsteigenden Ast, geradliniger Osteotomie bei 34 und Einstellung einer Okklusion. Ein prothetischer Ausgleich ist noch erforderlich.
Situation nach sagittaler Spaltung im linken aufsteigenden Ast, geradliniger Osteotomie bei 34 und Einstellung einer Okklusion. Ein prothetischer Ausgleich ist noch erforderlich.

Therapie bei Vogelgesicht

Bei extremen Hypoplasien des Unterkiefers, die mit einem Vogelgesicht einhergehen, ist in der Regel eine erhebliche Vorverlagerung des Unterkiefers erforderlich, die nur durch eine ausgiebige Verlängerung der aufsteigenden Äste durch Knochentransplantate zu erreichen ist.

Ist eine Ankylose die Ursache des Vogelgesichts, so muss diese operativ beseitigt werden. Der Unterkiefer wird nach vorn verlagert und durch Silastikimplantate abgestützt, die nach drei Monaten durch Knochentransplantate ersetzt werden (siehe Ankylose).

Wird die Ankyloseoperation im Kindesalter vorgenommen, so werden die Silastikblöcke vorerst nicht durch Knochen ersetzt. Nach einigen Jahren können sie durch größere Silastikimplantate ausgetauscht werden, um die Situation dem wachsenden Gesichtsschädel anzupassen.

Bewährt hat sich auch die temporäre Einpflanzung von homologen Rippenknorpeltransplantaten, die dem Unterkiefer ebenfalls eine ausreichende Abstützung geben können.

Die endgültige Knocheneinpflanzung erfolgt in solchen Fällen erst nach Abschluss des Wachstumsalters.

Bei einem Vogelgesicht anderer Genese, bei dem die Gelenke nicht verändert sind, kann die oben beschriebene bogenförmige Osteotomie der aufsteigenden Äste mit Einpflanzung von Knochentransplantaten oder eine Kallusdistraktion vorgenommen werden.

Kallusdistraktion

Bei dem Verfahren, das bereits im Kindesalter angewandt werden kann, wird nach Osteotomie des hypoplastischen Unterkiefers mit Hilfe eines Distraktionsgeräts eine schrittweise Extension im Bereich des Osteotomiespalts vorgenommen, wobei Kallusgewebe entsteht. Für die Distraktion gibt es verschiedene Geräte:

  • Bei extraoral angebrachten Distraktoren werden die Knochenfragmente durch bikortikal im Knochen verankerte Pins, die perkutan eingebracht werden, in situ gehalten.
  • Zur Vermeidung der Nachteile dieser extraoral angebrachten Geräte (Narbenbildung, Behinderung der Patienten) wurden intraorale Distraktoren entwickelt. Diese Geräte werden im Knochen mit Schrauben verankert. Für die Distraktion müssen sie jedoch manuell durch die Schleimhaut aktiviert werden, wodurch eine Infektionsgefahr gegeben ist.
  • Ein voll implantierbares Gerät, das über eine Steuerelektronik reguliert wird und eine automatische Distraktion von 1 mm pro Tag gewährleistet, wurde tierexperimentell erfolgreich getestet. Mitteilungen über die klinische Verwendung und ihre Ergebnisse, sind in Kürze zu erwarten.
  • Inzwischen gibt es auch ausschließlich dental fixierte Distraktionsgeräte, die allerdings nur im bezahnten horizontalen Unterkieferbereich eingesetzt werden können.
    Durch tierexperimentelle Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass auch mit diesen Geräten die erforderliche Distraktion erzielt werden kann, ohne dass mit schwerwiegenden parodontalen Veränderungen gerechnet werden muss.
    Die Kontinuität des N. alveolaris inferior bleibt erhalten.
    Auch hier werden Mitteilungen über klinische Ergebnisse in Kürze erwartet.

Am 4. bis 7. Tag nach der Operation beginnt die Distraktionsphase, die pro Tag 1 mm beträgt und je nach Rücklage des Unterkiefers mehrere Wochen benötigt. Nach einer Retentionsphase von acht bis zwölf Wochen können die Distraktoren entfernt werden.

Eine weitere kieferorthopädische Überwachung und gegebenenfalls Therapie ist erforderlich.

Unterstützende Eingriffe

Durch eine Einstellung der Okklusion kann – wie bei der mandibulären Prognathie – nicht immer ein zufriedenstellendes Profil erzielt werden. In solchen Fällen sind zusätzliche Korrekturen am Kinn erforderlich.

Daneben kommen Abflachungen der Kieferwinkel vor, die ebenfalls korrekturbedürftig sind.

Folgende Eingriffe können erforderlich werden:

  • Die Kinn-Verschiebe-Plastik dient der Verbesserung der Kinnprominenz.
    Der Kinnrand wird vom Unterkiefer abgetrennt und vorverlagert. Das Fragment bleibt dabei an der Muskulatur gestielt. Die Fixation erfolgt in der Regel durch Zugschrauben. Die durch Vorverlagerung des Kinnrandes entstandene Stufe kann mit einem Knochenersatzmaterial ausgefüllt werden.
    Bei zu langem Kinn kann ein Knochenkeil unterhalb des Foramen mentale, des Mandibularkanals und der Zahnwurzeln, entfernt werden (Köle).
    Bei einem zu kurzen Kinn kann ein Knochentransplantat zwischen dem mobilisierten Kinnrand und dem anterioren Unterkieferbereich eingelagert werden (Converse).
  • Ein Kinnaufbau mit Knochenersatzmaterial ist indiziert, wenn die Kinnrücklage nicht zu ausgeprägt ist.
  • Ein Aufbau der Kieferwinkelregion kann auch ohne Kinn-Verschiebe-Plastik mit einem Knochenersatzmaterial vorgenommen werden.